Verfassungswidrige Gesetze bieten viele Vorteile, aber kaum Risiken
Liebe Leserin, lieber Leser
dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die (Steuer-)Gesetzgebung der Bundesregierung überprüft, ist legitim, von den Gründervätern der Bundesrepublik so gewollt und überaus sinnvoll. Folgende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus der jüngeren Vergangenheit zeigen das deutlich:
- Die Beiträge zur Sozialversicherung dürfen bei der kindergeldschädlichen Grenze keine Rolle spielen. Das Finanzamt muss aus den Einkünften eines Kinds die Sozialversicherungsbeiträge herausrechnen (Aktenzeichen: 2 BvR 167/02).
- Das derzeit noch geltende Schenkung- und Erbschaftsteuergesetz ist verfassungswidrig, da Immobilien und Firmenanteile zu gering bewertet werden (Aktenzeichen: 1 BvL 10/02).
- Die Beiträge zur privaten Krankenversicherung müssen in Zukunft in höherem Umfang von der Steuer absetzbar sein (Aktenzeichen: 2 BvL 1/06).
Leider sind die obersten Verfassungsrichter nicht immer konsequent: In ihrer aktuellen Entscheidung zur Absetzbarkeit (privater) Krankenversicherungsbeiträge stellten sie zwar eindeutig fest, dass die derzeitige Gesetzeslage gegen die Verfassung verstößt. Jedoch kann zunächst kein einziger Bürger dieses steuerzahlerfreundliche Urteil nutzen. Der Grund: Die Richter verpflichten den Gesetzgeber, spätestens mit Wirkung zum 1. Januar 2010 das Gesetz verfassungsgemäß neu zu regeln. Bis zu diesem Stichtag aber bleibt alles beim Alten.
Verfassungsentscheid nutzt vorerst nichts
Das bedeutet konkret: Wir Steuerzahler können keine höheren Krankenkassenbeiträge absetzen und zahlen dadurch bis 2010 zu hohe Steuern. Der Staat kassiert mehr Geld, als ihm zusteht. Warum dieser Kuschelkurs des BVerfG mit dem Staat? Die Richter erklärten in ihrer Urteilsbegründung: "Die Nichtigkeitserklärung hätte nicht vertretbare fiskalische Auswirkungen". Oder anders ausgedrückt: Es hätte den Staat zu viel Geld gekostet, das verfassungswidrige Gesetz sofort außer Kraft zu setzen.
Das Bundesverfassungsgericht entschied schon mehrfach so ähnlich, zum Beispiel bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Auch hier blieb zunächst alles beim Alten. Das Gericht verpflichtete den Gesetzgeber nur, bis zum 1. Januar 2009 ein neues Gesetz vorzulegen.
Es ist nicht verständlich, warum die Verfassungsrichter so viel Rücksicht auf den Staatshaushalt nehmen. Welcher normale Bürger entgeht schließlich einer Strafe, nur weil diese "nicht vertretbare Auswirkungen" hätte?
Mehr noch: Unsere Politiker werden geradezu ermutigt, verfassungswidrige Gesetze zu verabschieden! Der Staat geht dabei ja kein Risiko ein, er ist stets der Gewinner. Wir Bürger dagegen sind die Verlierer und zahlen – wie immer – die Zeche!
Kaum erfolgreiche Bürger vor dem Verfassungsgericht
Übrigens: Jeder, der sich in seinen Grundrechten verletzt fühlt, kann das Bundesverfassungsgericht anrufen. Seine Klage kann sich gegen die Maßnahme einer Behörde, gegen das Urteil eines Gerichts oder gegen ein Gesetz richten. Die Verfassungsbeschwerde ist schriftlich einzureichen und zu begründen. Das Verfahren ist kostenlos. Nur in Missbrauchsfällen wird eine Gebühr bis 2.600 Euro erhoben. Das Bundesverfassungsgericht prüft nur die Einhaltung der Grundrechte.
Von 1951 bis 2005 sind beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe 151.424 Verfassungsbeschwerden eingegangen.
3.699 von ihnen waren erfolgreich.
Dennoch: Ohne das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung sähe alles noch viel schlechter für uns Bürger aus.
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Woche. Herzlichst, Ihr
Lutz Schumann
Herausgeber und Chefredakteur
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